Prolog Man könnte sich als "nicht eingeweihter" Leser nach dem Genuss dieses Berichtes fragen: Warum tut der sowas - 600 km radfahren in höchstens 40 Stunden, also quasi an einem Stück? Und dann noch unter eher ungünstigen Wetterbedingungen? - Hmm. - Schwer zu sagen. Fest steht, dass man sich hinterher sehr genial fühlt, seine eigenen Grenzen mal wieder ein Stück nach vorne geschoben zu haben oder überhaupt den - bei solchen Distanzen fast immer auftretenden - Widrigkeiten getrotzt, sich 40h lang der Welt ausgesetzt und, nicht zuletzt und wie insb. in diesem Fall, eine sehr angenehme Zeit in einer kleinen Reisegruppe verbracht zu haben. Lange Brevets sind immer und auf jeden Fall grenzwertige Erfahrungen.
Zu danken ist auf jeden Fall, außer den im Text erwähnten Personen, Rainer und Uwe, die dieses Brevet organisiert haben - und das stellvertretend für alle ihre ARA-Kollegen. Der Aufwand muss erheblich sein. Und so schwer die Strecke in diesem Fall auch war, so schön war sie über einen großen Teil - auch, wenn zumindest der "Brühler Trupp" Sauer- und Bergisches Land fast ausschließlich im Dunkeln und verregnet erlebt hat.

* * *

Samstag abend, 21:00 - Suuu-per. Nachdem das angedrohte Gewitter den ganzen Samstag lang sich geziert hat, geht es pünktlich zum Start los. Prasselnder Regen, und 45 Möchtegern-Starter flüchten sich wieder in die Turnhalle. Ganz klar: "Kann man nicht fahren, ist Glattreis", so Rainer. Zehn Minuten später ist das Glatteis plötzlich verschwunden, und 45 Fahrer kacheln, die Hand vor Augen kaum sehend, Richtung Bergisch Gladbach. Jetzt nur die Truppe nicht verlieren, denn bereits nach 5 km ist mein Streckenplan trotz Plasteumhüllung patschnass und quasi unbenutzbar.

Bei km 21 an einer Ampel - rot und Pinkelpause - passiert das Unvermeidliche dann doch, und ich finde mich in einem Reste-Trio wieder. Andererseits ist das ein viel entspannteres und - rein subjektiv - auch sichereres Fahren. Irgendwo in Moitzfeld verlieren wir den dritten, erhalten als Ausgleich aber Enno, mit dem ich zusammen fahren wollte, und Tom zugeliefert, so dass Michael und ich ab nun als Quartett unterwegs sind. Auf dem Weg nach Nordosten, erste Kontrolle: Meinerzhagen, müssen wir auf den Sternenhimmel verzichten, aber das Wetterleuchten und die Blitze - leider genau in Fahrtrichtung - sind weitaus beeindruckender.

Irgendwann noch vor Meinerzhagen hört der Regen auch schon auf. Aber eine trockene Straße werden wir eine ganze Zeit noch nicht sehen... Endlich an der Kontrollstelle angekommen, ist der große Haufen wohl schon durch, und ich rechne damit, bei den allerletzten zu sein. Die kahlgefressene Brötchentheke spricht Bände. Umso erstaunter bin ich, als Rainer und Christian, mein designierter Dentist, plötzlich auftauchen! Traditionell natürlich mit Kurzpause, so dass beide schon vor mir wieder weg sind. Grad als wir loswollen, bittet Oliver um Mitnahme - sein bisheriger Mitfahrer hat ihm gebeichtet, höchstens 200 km fahren zu wollen, und da sucht er was langlebigeres. Klar, wir sind die Richtigen! Und schon geht's los, Richtung Drögenpütt und Fürwiggetalsperre das "Dach der Tour" zu erklimmen - allerdings ein sehr moderater Anstieg im Vergleich zu dem, was noch folgen soll. Gut, dass wir das da noch nicht wissen...

Bei km 115 in Plettenberg überlegen wir kurz, Ennos Schwiegermutter zwecks Spontanverpflegung zu überfallen, verzichten aber in Anbetracht der recht späten Stunde (ca. 2:30) dann doch darauf und fahren direkt zum "Ausspannen" hoch. Mit bis zu 14% Steigungen einer der böseren Hügel, wo früher die Pferde ausgespannt und gewechselt wurden - daher der Name. Zur Belohnung verfahren wir uns dann im Folgenden und treffen an einer undefinierbaren Stelle auf die B229. Wo Beckum sein sollte, ist Balve, und wo ein Schild nach Arnsberg sein sollte, ist Meschede angezeigt. Rätselraten, Karte holen - wir sind doch noch halbwegs auf Kurs und finden die Originalpiste wieder.

Aber wir sind nicht alleine. Zeitgleich sind in Großenwieden von Uwe weitere 20 Fahrer losgeschickt worden, die den gleichen Kurs fahren wie wir - nur von G nach B und zurück statt von B nach G und zurück wie wir. Und tatsächlich kommt uns vor der nächsten Kontrolle in Neheim die erste Gruppe entgegen! Die müssen auch schon mehr als 160 km weg haben. Dank des harschen Gefälles kann ich aber nicht bremsen sondern nur johlen.

In Neheim treffen wir Rainer wieder, diesmal alleine. An seinem Nuts kauend, bringt er mich auf eine tolle Idee (am Ende sollten etwa 500g davon in mir verschwunden sein). Inzwischen ist es auch schon fast hell, die Straßen fast trocken, so dass wir den Möhnesee in fast seiner ganzen Pracht bewundern können.

Wenn man weiß, wie, kommt man mit dem Rad unbehelligt auf Autobahnen. Oder zumindest auf deren Rastplätze wie den an der "Soester Börde", unsere nächste Kontrollstelle. 7:00, Zeit für ein gutes Frühstück, improvisiert aus einem Teller Farfalle mit einer Tasse Gulaschsuppe als Dressing. Das stählt uns für das bevorstehende Flachstück, bevor es dann bei Oerlinghausen wieder hügelig wird und wir für die Querung des Weserberglandes warmgemacht werden.

Unspektakuläres Flachlandfahren. Warm wird es, sogar Sonne kommt auf! Tom hat nicht nur mit seinem verletzungsbedingten Trainingsrückstand und mit dem in der Woche davor absolvierten 600er in Osterdorf zu kämpfen sondern bekommt nun auch noch Knieprobleme. Wir fahren also 2-3 km/h langsamer, was mir insgeheim auch nicht so furchtbar unangenehm ist.

Klar ist hier nur schon eins: Ennos und meine Strategie, am frühen So abend ganz dekadent für ein paar Stunden in ein Hotel einzuchecken und sich ein wenig die Nase zu pudern, werden wir nicht realisieren können. Dazu eiern wir zu regelmäßig immer so 2h vor Kontrollschluss umher. Wenn man nicht zuviel drüber nachdenkt, kann man es aber aushalten.

Nicht auszuhalten: Radwegeverseuchte Landstraßen in Ostwestfalen und entsprechend dressierte Autofahrer. Noch schlimmer: den Teutoburger Wald bei Oerlinghausen auf der Hauptstraße zu untertunneln und den Radverkehr durch die Ortsmitte schicken. Dank Uwes Wegbschreibung (er war für den Teil Soest - Großenwieden zuständig, Rainer für die südwestlichen Hälfte) finden wir uns aber zurecht, nehmen an einer Tanke noch frische Croissants und Getränke auf und finden uns unvermittelt im Weserbergland wieder. Hinter uns sieht es schaurig aus - dunkelgrauer bis hellschwarzer Himmel. Gut, dass wir da nicht hinmüssen.

Schlecht: Unwetter sind schneller als Randonneure. Und so trifft uns beim Bergdorf Talle die nächste Ladung frischen Regenwassers, und das gleich in so einem Ausmaß, dass wir in ein Bushäuschen flüchten, denn an Sehen ist bei dem Niederschlag nicht zu denken. Dort sitzt schon ein Ducati-Fahrer und stärkt sich, aber Platz genug ist dennoch. Beim nächsten oder übernächsten Dorf dann Alarm: vor den herabstürzenden Fluten hat wohl ein Rohr kapituliert, und so steht die Dorfstraße komplett und ziemlich genau bordsteinhoch unter Wasser; wir können also über den Fußweg ausweichen. Die braune Pampe kommt aus einem Garten eines Hauses etwa 200 m bergan - der Besitzer hat sicher auch wenig seltsamere Pfingsten erlebt.

Mit der Frage, ob das hier Rinteln sei, verwirren wir den Tankstellenpächter in Exter. Laut Plan sind wir hier richtig, Rinteln, was auf der Startkarte als Kontrollort steht, liegt aber noch 14 km weit weg - und da gibt es auch Esso-Tankstellen. Wir entscheiden uns für "Egal", was sich auch als richtig herausstellt. Bange Blicke zu den Unwettern nach Westen werden abgelöst durch böse Blicke auf die Rampen, die Gott oder Uwe zwischen uns und die Weser gestellt. Einige ungenannt bleiben wollende Mitfahrer nehmen den "letzten bösen Anstieg" (O-Ton Streckeplan) dann zu Fuß.

Endlich kein Regen mehr und die nächste Kontrollstelle: die Fähre nach Großenwieden. Die Überfahrt geht so schnell, dass die Stempelzeit für fünf Leute schon fast zu lang ist. Da Uwe aber bereits die Überfahrt bezahl hat, sparen wir wenigstens diesen Vorgang. Und da wartet auch schon Jürgen: Richtig ... mir fällt ein, dass seine Freundin mir bei unserer Abfahrt in Brühl sein Handy mitgegeben hat, damit ich es ihm gebe. Nur hab ich im Peloton nie einen Jürgen gefunden und das Handy dann auch gleich vergessen. Aber so wird alles wieder gut!

Ein Blick nach Westen: Immer noch sieht es schauerlich aus, und so flüchten wir in Großenwiedens Dorfgasthof zu einem Imbiss aus Bratkartoffeln mit Spiegelei, während es draußen gründlich gießt. Jürgen isst zwar mit und begleitet uns noch 10 km bis Rinteln, wählt dann aber die Bahn als weiteres Fortbewegungsmittel. Angesichts des Wetters sei ihm das unbenommen, und auch ich sinniere lange über den so passenden, in Porta Westfalica abfahrenden RE. Aber - bis Vlotho, zur nächsten Kontrolle, kann ich auch noch mitfahren.

Naja, in Vlotho aufhören ist doof. Nächste Kontrolle ist dann wieder 117 km später in Soest an der beliebten Raststätte, bis dahin kann ich ja noch mitfahren. Da gibts sicher auch Hotels. Der Weg dahin ist aber lang und anfangs noch mit einigen bösen Pickeln im Weserbergland gespickt. Leider durchfahren wir das Unterwasserdorf vom Hinweg nicht mehr. Dafür gibts - schon traditionell - bei Oerlinghausen eine kontrolllose Verpflegung, bevor wieder das berühmte Flachstück kommt, auf dem man genug Zeit hat nachzudenken über schmerzende Beine, Sitzbeschwerden, merkwürdige Geräusche im Knie, Durst und Hunger und dem gleichzeitigen Gefühl nichts essen zu können. Michaels trockenes Toastbroat, ein Überbleibsel aus Oerlinghausen, tut da wunder.

Die Arbeit macht über mindestens 30 km Oliver alleine, der mit stoischer Gelassenheit mit 27 km/h durch das Münsterland pflügt. Im Kielwasser Enno, der seit Stunden nicht mehr spricht; Michael, der am liebsten sofort schlafen würde, Tom, der sich im Vergleich zu heute vormittag sehr gut erholt hat, und ich, der ich nicht mehr weiß, wie ich sitzen soll, weil alles irgendwie weh tut und vom Regen wundgescheuert ist.

Und wieder Soest. Inzwischen sind uns schon die ersten Rückreisenden der Gegengruppe begegnet, und wir halten unseren knappen Vorsprung vor dem Kontrollende. Aber für eine gute Stunde Pause ist Platz, und die brauchen wir auch zum Essen und vor allem: schlafen. Bewährt hat sich jetzt auch, eine zweite Radhose mitzunehmen, ab jetzt sitze ich endlich wieder halbwegs trocken.

1:30, los geht's! Und ich fahre ja immer noch mit. Naja, eher ein Versehen. In Soest aufhören ist ja auch blöd, mitten in der Nacht, ohne Hotel. Dann lieber bis Neheim fahren, da kann man noch ne Stunde warten bis es hell wird und dann gemütlich direkt nach Hause kullern. Am Stehtisch in der Tanke steht schon ein Kollege der Gegenrichtung und kaut an seinem Kaffee. Wir sind schon - gerade in Anbetracht der vor uns liegenden harten Strecke durch Sauerland und das Bergische - ziemlich knapp dran, aber der gute Mann muss noch 30 km mehr fahren als wir.

Und dann heißt es nach mehr als 460 km gemeinsamer Fahrt Abschiednehmen. Oliver und Michael sind zu stark, und beide wollen sich heute noch für PBP qualifizieren. An jedem Anstieg, von denen es jetzt viele geben wird und die auch lang und heftig sein werden, dann auf mich zu warten, wäre ja blöd; also schick ich sie allein auf die Weiterreise. Tom schließt sich den beiden noch an, und während sie losfahren, nehmen Enno und ich noch ein Heißgetränk. So gegen halb vier machen wir uns auch wieder auf die Socken.

Herdringen. Das Tor zur Hölle. Wo wir vor knapp 24h die Gegentruppe hochkrabbeln sahen, quälen wir uns jetzt selbst hoch. Vielleicht nur 250 Höhenmeter, aber steil, und nach 500 km fällt einem das nicht mehr so richtig leicht. Oben dann statt Aussicht kühlende Nebelfelder. Und im weiteren neue Anstiege, die schmerzen, und neue Abfahrten, die einen frösteln lassen. Kaum auf der B229 aufgeschlagen, entdecken wir an einem Bushäuschen zwei Mitstreiter! Die haben ihren Schlaf gerade bekommen. In A. dann endlich auch für uns beiden eine wohlverdiente, fünfzehnminütige "Bankomatpause" zwecks Tiefschlaf.

Und dennoch: Der Aufstieg von Plettenberg Richtung Nordhelle überfordert mich fast, und Enno muss mich mit Traubenzucker "füttern". Plötzlich tauchen von hinten zwei weitere Kollegen auf und überholen uns. Scheint so, als seien wir doch nicht ganz am Ende des Feldes. Etwas später wirkt das Teufelszeug: Zur Fürwigge "fliege" ich mit 12 km/h praktisch hoch. Oder ist es nur Meinerzhagen, das jetzt immer gestaltannehmender lockt? Es lockt zu Recht: Es gibt noch frische belegte Brötchen und Kaffee. Und - noch besser: da sitzen noch mindestens 5 Kollegen, darunter Jochen, den ich seit dem Start nicht mehr gesehen und schon längst im Ziel vermutet habe, und - Oliver, Michael und Tom! Während Enno und ich geschlafen haben, haben die beiden sich verfahren und eine spezielle, 18-prozentige Bergwertung genommen. Respekt!

Die Truppe befindet sich allerdings schon in Aufbruchsstimmung; unser gemütliches Frühstück lassen wir uns aber nicht nehmen. Draußen regnet es sich jetzt gründlich ein, und allein die Aussicht, bis 13:00 in Brühl sein zu müssen, lässt uns um 8:20 wieder losfahren. Zwar sind die letzten 80 km nicht mehr ganz so hart, haben aber immer noch ein paar böse Steigungen (nach Lindlar und Moitzfeld) im Programm. Ab Moitzfeld sind dann ganz andere Fähigkeiten gefragt: bei ergiebigem Landregen sich auf den letzten 20 km durch die Stadt zu friemeln, inkl. der Rodenkirchener Autobahnbrücke, um den Rhein zu überqueren. Passt alles perfekt, und um 12:43 erreichen wir die Endkontrolle in Brühl - Punktlandung nach 641 km und 5314 Höhenmetern!

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Epilog Dass die Bahn ein seltsames Unternehmen ist, wusste ich schon immer. Bspw. fahren Züge immer dann pünktlich, wenn man selbst 30 Sekunden zu spät am Bahnsteig ist. Beim Warten auf den nächsten Zug experimentiere ich mit verschiedenen Schüttelfrost-Graden. Als der endlich kommt, müssen wir bei den Rädern stehen bleiben, weil das Radabteil schon voll ist, und ich merke, dass man tatsächlich auch im Stehen einschlafen kann. Man wacht aber durch die nachgebenden Knie recht schnell wieder auf.


Autor: Christian Schulz
Mailadresse zum Selberbasteln: christian.schulz at bartali dyndns org
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